Tessa Schiethart„Ich bin Tessa Schiethart – Coach, Autorin und Fördererin von Körperbewusstsein, Akzeptanz, Inklusion und Vielfältigkeit.“
(Fotos: @sophiemayanne, @nicola_katie, @jurian1975)
Danke Tessa für dieses spannende Interview mit Dir! Was ist Deine Hautauffälligkeit?Ich bin mit dem «Sturge-Weber-Syndrom» geboren. Sturge Weber geht oft mit einem Feuermal im Gesicht und/oder einem Glaukom (hoher Augendruck) und/oder Epilepsie einher. Ich habe nur ein Glaukom, was dazu geführt hat, dass mein rechtes Auge blind ist und mein linkes Auge unter ständiger Aufsicht von Fachärzten steht. Als ich sehr jung war, unterzog ich mich einer Laserbehandlung, aber das ging im Alter von zwei Jahren furchtbar schief, als sich herausstellte, dass die neue Maschine im Krankenhaus viermal so hoch kalibriert war, wie sie hätte sein sollen. Dadurch wurde mein Muttermal verbrannt, was zu Narbengewebe auf der Oberfläche führte. Seitdem haben meine Eltern und ich mit Laserbehandlungen gezögert, und auch meine Augen verlangten noch mehr zusätzliche Aufmerksamkeit.
Wie reagierst Du auf Reaktionen zu Deinem veränderten Aussehen?Ich habe nicht unbedingt ein verändertes Aussehen. Ich bin damit geboren und daran gewöhnt, solange ich mich erinnern kann. Ich bin von klein auf mit dem Verständnis aufgewachsen, dass ich zwar ein verändertes Aussehen haben könnte, aber dass das in Ordnung ist und dass ich damit alles erreichen kann, dass ich meine Träume verfolgen kann. Meine Eltern haben mich sehr offen und warmherzig erzogen und mich bei jeder Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe, unterstützt. Außerdem bin ich in Amsterdam aufgewachsen, einem Ort, den ich ebenfalls als tolerant und offen betrachte. Ich glaube, dies hat meiner Erfahrung geholfen, mit einer sichtbaren äusserlichen Veränderung zu leben.
Wie möchtest Du, dass Dir andere Menschen begegnen?Ich bekomme nicht viele (negative) Kommentare. Ich sehe aber einige Leute, die länger starren oder schauen, als sie sollten. Ich bemerke auch manchmal Leute, die hinter meinem Rücken tuscheln. Ich rate anderen immer neugierig zu sein, dann trauen Sie sich auch zu fragen. Es ist eine schreckliche Eigenschaft, hinter dem Rücken von jemandem zu reden. Ich bin offen und bereit, über mein Gesicht zu sprechen. Ich schäme mich nicht dafür. Aber ich weiß, dass es für viele andere schwer ist, Fragen gestellt zu bekommen und sich zu erklären. Ich mag es jedoch, gefragt zu werden, und ich möchte so behandelt werden, wie ich andere behandle: mit Offenheit, Respekt, Neugier und gegenseitigem Verständnis.
Was hat Dich dazu bewegt, Deine eigene Webseite und einen so inspirierenden Instagram-Account zu erstellen?Im Jahr 2019 schloss ich meinen Master in Organisationskultur und Management ab. Innerhalb dieses Programms interessierte ich mich besonders für Inklusion und Diversität. In meinem Privatleben lief ich mit Fragen wie «Was werde ich nach diesem Programm tun?», «Wie soll ich das Arbeitsleben und den Arbeitsmarkt angehen?». Mitten in den Interviews wurde mir klar, dass ich diesem Thema mehr Aufmerksamkeit widmen musste und dass gerade für diese Gruppe eine mentale Anleitung notwendig war. Ich habe mich schon immer für Psychologie, Anthropologie, Coaching, den menschlichen Geist, Yoga und Meditation interessiert. Die Interviews mit diesen Personen brachten mich dazu, eine meiner anderen Leidenschaften und Träume zu verwirklichen: mein eigenes Coaching-Geschäft zu gründen.
Wen und was möchtest Du mit Deiner Arbeit erreichen?Ich hoffe, dass ich jeden Einzelnen – jeden Körper – inspirieren und aktivieren kann, in unserem Denken über die Körper, die wir bewohnen, integrativer zu werden und dabei weniger wertend zu sein, uns selbst und die Welt um uns herum mehr zu akzeptieren. Ich rege dazu an, mehr zu fühlen und weniger zu denken. Durch das Finden eigener Antworten befähigt zu werden und sich den Antworten hinzugeben, die man noch nicht gefunden hat. Ich möchte Sie inspirieren und dazu anleiten, eine Körper-Geist-Verbindung herzustellen und das Leben mit mehr Bewusstheit über uns selbst und andere zu leben – sich zu verbinden.
Du arbeitest als Coach – wen coachst Du und wie machst Du das?Ich habe alle Arten von Menschen gecoacht und begleitet: Menschen mit Körperbeziehungsproblemen, Eltern, die ein Kind mit einer sichtbaren Hautauffälligkeit haben, Menschen in ihrem Prozess als Patient und im Umgang mit der medizinischen Welt, sowie Hilfe zur Verbindung zwischen Körper und Geist zu verstärken und zu verbinden. Ich coache mit einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem ich Emotionen, Gefühle und wie sie im Körper gespeichert werden können, berücksichtige. Ich arbeite mich mit Menschen durch Traumata hindurch, indem ich Erfahrungen wieder durchlebe, indem ich an ihren Kindheitserinnerungen arbeite, indem ich an Überzeugungen arbeite, die wir an uns selbst festhalten, und indem ich KlientInnen dabei begleite, diese zu durchbrechen.
Was erwartest Du von der Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit einer Hautauffälligkeit?Wir alle tragen zur Gesellschaft bei. Unsere Gesellschaften sind zunehmend auf äußere Faktoren wie das Aussehen ausgerichtet. Das ist an sich nicht falsch, aber einige Trends, die sich daraus ergeben, können sich negativ auf unsere innere Erfahrung der Welt und der Menschen um uns herum auswirken. Daher tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung, dies auszugleichen. Dazu trage ich bei, indem ich über diese Trends und Entwicklungen schreibe und versuche, die Menschen in ihrer Erfahrung in der Gesellschaft widerstandsfähig zu machen, auch wenn wir zufällig ein Aussehen haben, das sich ein wenig von dem unterscheidet, was wir als „die Norm“ verstehen. Meiner Erfahrung nach gibt es so etwas wie eine Norm nicht, aber wir sind einer normativen Vorstellung davon ausgesetzt, wie wir aussehen sollten. Die Medien tragen dabei eine große Verantwortung. Durch die sozialen Medien, die fast alle von uns nutzen, haben wir kollektiv die Macht, uns mehr Anschauungsmaterial, mehr Blicken, mehr integrativen Bildern und Rahmen auszusetzen.
Was sind Deine Träume für die Zukunft?Ich habe viele persönliche Träume, die von Reisen um die Welt und dem Leben in Asien bis hin zur Gründung eines neuen Unternehmens und einem eigenen Hund reichen. Aber wenn es eine Sache gibt, die mir wirklich wichtig ist, dann ist es mein Augenlicht. Meine größte Hoffnung für die Zukunft ist, dass mein Augenlicht so bleibt, wie es ist. Ich habe mein ganzes Leben lang mit der Unsicherheit gelebt, dass ich das einzige Auge verlieren könnte, mit dem ich sehe. Das Augenlicht ist so wichtig für mich, deshalb möchte ich auch die Welt sehen. Ich lebe jeden Tag in Dankbarkeit für einen weiteren Tag, an dem ich diese schöne Welt sehen kann. Von den kleinen Dingen, die man sieht, wenn die Sonne scheint, über das Kitzeln des Regens am Fenster bis hin zum Anblick neuer Kulturen und fremder Orte. Das schätze ich sehr. Und für mich ist das sichtbare Anderssein nur eine Erinnerung daran, dass ich sehe, wie andere mich ansehen. Und das macht mir auch Freude, denn ich halte es nicht für selbstverständlich zu sehen und gesehen zu werden – das Sehen ist ein großes Thema in meinem Leben. (Interview: Isabel Sahli, 2020)
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- Interview mit Clemens Schiestl, Tagesanzeiger, 25.12.2013
- «Tagesanzeiger-Artikel Sarah, übersät mit Leberflecken», 25.12.2013