Jean-Pierre

«Als ich mit 40 das erste Mal zu einem Treffen der ED-Selbsthilfegruppe ging, fühlte sich das an wie nach Hause kommen.»

Mit 53 Jahren hat Jean-Pierre bereits ein erfülltes Leben geführt. Er ist verheiratet, hat eine Familie gegründet, eine erfolgreiche Karriere als Elektroingenieur und Softwareentwickler aufgebaut und viele Reisen in den Norden unternommen, um die Schönheit der Welt zu erleben. Doch von klein auf wusste er, dass er anders war als die meisten Menschen in seinem Umfeld. Schon als Kind wurde er mit ektodermaler Dysplasie (ED) diagnostiziert, einer seltenen genetischen Erkrankung, bei der die Schweissdrüsen fehlen, so dass Betroffene nicht schwitzen und so ihre Körpertemperatur insbesondere bei hohen Temperaturen nicht regulieren können. Auch schütteres oder fehlendes Haar, trockene Haut und fehlende oder verformte Zähne gehören zu den typischen Merkmalen der Genabweichung.

 

Jean-Pierre und seine Familie

An seine Kindheit erinnert sich der Familienvater trotzdem gerne zurück: «In der Schule fühlte ich mich wohl. Wie man in der Klassengemeinschaft aufgenommen wird, steht und fällt mit der Lehrperson.» Seine Lehrerinnen standen damals im engen Kontakt zu seinen Eltern und seien sehr verständnisvoll gewesen – in der Klasse wurde er nie aufgrund seiner Erkrankung verspottet. Einzig Schulausflüge oder Sporttage in den Sommermonaten mochte er nicht so gern, da er aufgrund seiner Erkrankung häufiger eine «Spezialbehandlung» brauchte, um körperliche Anstrengung bei Hitze zu vermeiden, was ihm das Gefühl gab, nicht dazu zu gehören. Bereits in jungen Jahren war er sehr kreativ und neugierig, liebte es Hütten zu bauen, zu basteln, Modellflugzeuge zusammenzusetzen und schliesslich auch Fernseher auseinander zu schrauben, um deren innere Mechanismen zu erkunden. So entwickelte er früh ein tiefes Verständnis für Technik. Für Sport, abgesehen vom Wandern, habe er sich noch nie so richtig begeistert.

 

Jean-Pierre und seine Frau

Doch das Teenageralter brachte neue Herausforderungen mit sich. Jean-Pierre spürte plötzlich, dass er bei Mädchen nicht so gefragt war wie seine gleichaltrigen Freunde. Die Unsicherheiten, die in dieser Zeit auftauchten, führten zu einer wichtigen Entscheidung in seinem Leben: Auf Anraten des Kinderarztes hin, begann er mit 15 Jahren eine Perücke zu tragen, um sein fehlendes Haar zu verbergen. «Die habe ich dann getragen bis ich 30 war und ich muss heute ehrlich sagen, könnte ich mein Leben nochmal leben, würde ich diese Perücke nicht nochmal tragen. Ich würde jedem mit ED raten: Wenn es geht, mach’s ohne die Perücke. Man versucht mit einer Perücke zu verdecken, dass man keine Haare hat, obwohl jeder sieht, dass es eine Perücke ist. Bei Wind, in der Badi, beim Velofahren. Das ist sehr mühsam.» Es war seine Frau, die ihm schliesslich den entscheidenden Rat gab. Als sie ihr erstes Kind erwarteten, fragte sie: «Willst du es nicht mal ohne Perücke probieren?» Ihre Unterstützung und Bereitschaft, ihn so zu akzeptieren, wie er ist, gaben Jean-Pierre den Mut, die Perücke abzulegen. «Der Montagmorgen, an dem ich erstmals ohne Perücke ins Büro ging, war eine riesige Herausforderung.» Doch zu Jean-Pierres Überraschung erhielt er ausschliesslich positive Reaktionen. Kollegen und Kolleginnen kamen auf ihn zu, um ihn zu bestärken. Seine Lebensqualität verbesserte sich enorm und die Sorgen über verrutschende Perücken gehörten der Vergangenheit an. Seitdem steht Jean-Pierre voll und ganz zu seiner Erkrankung. «Ich gehe wirklich sehr offen damit um und erkläre gern, was es mit ED auf sich hat. Es ist viel angenehmer, wenn jemand nachfragt, was ich habe und sich auf ein Gespräch einlässt, als wenn hinter meinem Rücken spekuliert wird, was mit mir los ist. Es kam schon öfter vor, dass Leute meinten ich hätte Krebs und sehe darum so aus, wie ich aussehe.»

Mit 40 Jahren stiess Jean-Pierre online auf eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit ektodermaler Dysplasie. Das erste Treffen mit anderen Betroffenen war für ihn wie „nach Hause kommen“. Sie verstanden einander ohne viele Worte und boten gegenseitige Unterstützung an. Die Selbsthilfegruppe wurde zu einer Art Familie, die Jean-Pierre inspirierte und in der er besonders jungen Eltern mit von ED betroffenen Kindern viel Mut machen kann. «Es hilft ihnen zu sehen, dass ich trotz ED ein so schönes Leben habe, meine Ausbildungen gemacht habe, einen tollen Job habe und selbst eine Familie habe. Klar ist das Leben mit ED nicht immer einfach, doch ohne Genabweichung ist es das ja auch nicht, oder?»

 

Heute erkennt Jean-Pierre, dass die ektodermale Dysplasie nicht nur seine äussere Erscheinung, sondern auch seinen Charakter geformt hat. ED lernte ihn, anderen Menschen feinfühlig und empathisch gegenüberzutreten. «Ich bin auch im Alltag sehr aufmerksam für andere Menschen mit Beeinträchtigung, die in unserer Gesellschaft noch zu wenig akzeptiert und aktiv eingebunden werden.»

Da seine physische Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, empfindet er ausserdem eine viel grössere Wertschätzung und Dankbarkeit dafür, was ihm trotzdem alles möglich ist.

 

Jean-Pierres abschliessende Botschaft lautet: «Ich möchte Mut machen, egal ob es sich um ektodermale Dysplasie oder eine andere Auffälligkeit handelt: Jeder von uns kann das Leben positiv angehen, denn das Leben selbst ist von unschätzbarem Wert. Nutzt die Chancen, die euch gegeben sind, und macht das Beste aus eurem Leben.»

(Interview und Text: Celina Weber, wissenschaftliche Mitarbeiterin Hautstigma, August 2023)

 

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